Heftige Kritik an Leitlinien zu Inkontinenz und Descensus

  • Erzeugt am : 2. November 2020

    Uhrzeit : 00:18

    Von : Blasenkrebs Online-Selbsthilfegruppe

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    Titel : Heftige Kritik an Leitlinien zu Inkontinenz und Descensus

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    Inhalt :

    Beim 72. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) hat Prof. Christian Hampel, stellvertretender Vorsitzender des DGU-Arbeitskreises “Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie der Frau” die aktuellen Leitlinien zur Belastungsinkontinenz und zum Descensus genitalis der Frau wegen einseitiger Ausrichtung auf alloplastische Materialien und mangelnder Evidenz kritisiert.

    Hampel sprach im Forum “Checkpoint Urogynäkologie” am 26.09.2020 über die Stellungnahme des Arbeitskreises zum “Einsatz von synthetischen Band- und Netzimplantaten bei der Behandlung von Belastungsinkontinenz und Descensus genitalis der Frau”. Die Stellungnahme war eine Reaktion auf den “Mesh Ban” im angloamerikanischen Sprachraum, womit sämtliche alloplastischen Materialien aus der Behandlung der genannten Indikationen ausgeschlossen wurden; Grund waren schwere Komplikationen bei bestimmten Netzen und in der Folge erfolgreiche Klagen der Patientinnen (wir berichteten). Der Arbeitskreis betont in seiner Stellungnahme zwar, dass die Vermischung von großen Descensus-Netzen und Schlingen gegen Belastungsinkontinenz unzulässig sei und die Schlingen zu Unrecht in Verruf gerieten; dennoch rät er zu einer umfassenden Aufklärung, welche klassische Operationen ohne alloplastische Materialien einschließt, und warnt vor einer alternativlosen Verwendung dieser Produkte, wie es in den USA geschehen ist.

    Bänder alternativlos bei Belastungsinkontinenz?

    Doch auch hierzulande werden in den aktuellen Leitlinien die alloplastischen Materialien quasi alternativlos empfohlen, wie Hampel kritisierte. So heißt es in der Interdisziplinären S2e-Leitlinie für die Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau (AWMF-Registernr. 015/005), die gerade aktualisiert wird und für die auch die DGU verantwortlich zeichnete: “Suburethrale Bandanlagen (retropubisch und transobturatorisch) sollen Frauen mit unkomplizierter Belastungsinkontinenz als primäre operative Therapieoption angeboten
    werden (Empfehlungsgrad A).” Die Arbeitskreis-Stellungnahme wiederum empfieht, “nur in begründeten Einzelfällen” von den Leitlinienempfehlungen abzuweichen. “Das würde uns aber, wenn der Mesh Ban auch Deutschland erreicht, in erhebliche Therapienöte bringen, weil wir ja nach den Leitlinien gar keine Alternativen anbieten sollen”, sagte Hampel.

    Arbeitskreis ließ sich von EU-Gremium fehlleiten

    Selbst in der Stellungnahme wurden die Bandanlagen noch zu positiv eingeschätzt, denn der Arbeitskreis war einer Fehleinschätzung des Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks (SCENIHR) der Europäischen Kommission auferlegen. Unter der Überschrift “Es ist nicht alles Gold, was glänzt”, stellte Hampel dar, dass man sich auch auf vertrauenserweckende offizielle Organisationen nicht blind verlassen sollte. Denn das SCENIHR vertrat die Ansicht, dass der Einsatz mittelurethraler Schlingen (MUS) mit weniger Komplikationen verbunden sei als die klassische Kolposuspension nach Burch. Zugrundegelegt wurde unter anderem die Metaanalyse von Megan O. Schimpf und Kollegen von 2014. Doch diese sagt genau das Gegenteil aus, wie Hampel klarstellte. Dort heißt es, übertragen ins Deutsche: “Die Burch-Prozeduren können in geringeren Raten von Langzeitkomplikationen resultieren, wie Wiederaufnahme in den Operationssaal wegen Retention oder Erosion, Symptomen der Überaktiven Blase oder Leistenschmerz.”

    Fragliche Evidenz in der gynäkologischen Leitlinie

    Für die Erstellung der aktuellen Leitlinie “Diagnostik und Therapie des weiblichen Descensus genitalis” der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG, OEGGG, SGGG; AWMF-Registernr. 015/006; bei der AWMF nicht online, aber hier) wurden nach Hampels Darstellung Studien herangezogen, deren Evidenz einer kritischen Überprüfung nicht standhält. “In dieser Leitlinie sieht man, dass die anatomische Defektkorrektur offenbar beim Netz besser funktioniert als mit den Alternativverfahren”, so Hampel.

    Die mit 47 Prozent bei weitem gewichtigste Studie zur Untermauerung dieser Aussage von Daniel Altman und Kollegen von 2011 verglich die vordere Kolporrhaphie mit dem Einsatz eines transvaginalen Netzes zur Behandlung des Beckenorganvorfalls. Die Studie habe aber weder die Symptome der Patientinnen erfasst noch beschrieben, welcher Defekt überhaupt vorlag: ein kombinierter oder ein isolierter Defekt. “Die vordere Kolporrhaphie ist aber einzig für die Pulsionszystozele des vorderen Kompartimentes indiziert, und wenn man das Sechs-Punkt-Netz, das alle Kompartimente betrifft, mit einer Operation vergleicht, die nur für die – wahrscheinlich selten vorkommende – isolierte Zystozele zur Anwendung gebracht werden soll, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass die Netze besser abschneiden”, analysierte Hampel und brachte den Selektionsbias dieser Studie auf den Nenner: “Je höher der Patientenanteil ohne isolierten zentralen Defekt des vorderen Kompartimentes, desto vorteilhafter wird das transvaginale Sechs-Punkt-Netz abschneiden.”

    Auch die Studie von A. Vollebregt und Kollegen aus dem Jahr 2011 – in der Gynäkologen-Leitlinie mit sieben Prozent gewichtet – hielt Hampels Überprüfung nicht stand: Hier habe es ebenfalls keine Symptomerfassung gegeben, dafür aber fast nur kombinierte Defekte. “Mehr als die Hälfte der Patienten, die mir einer Kolporrhaphie versehen wurden, hatten in Wirklichkeit einen zentralen Defekt oder eine Rektozele”, so Hampel. “Was will man denn erwarten, wenn man eine Rektozele mit einer vorderen Kolporraphie therapiert? Natürlich wird da das Netz besser abschneiden.”

    “Vielzahl fehlindiziert durchgeführter Operationen”

    Insgesamt fällte Hampel ein vernichtendes Urteil über diese Leitlinie: “Es ist absurd, welche Publikationen mit welch schlechter Qualität Eingang in Leitlinien gefunden haben.” Er sei froh, dass die DGU zur Erstellung der Leitlinie nicht eingeladen gewesen sei und zitierte als weiteres Beispiel seiner Kritik den Satz aus der Leitlinie: “Der Einsatz von synthetischen Netzen im vorderen Kompartiment verringert die anatomischen und subjektiven Deszensus-Rezidivaten, allerdings ohne positive Wirkung auf die Lebensqualität” (aus der Evidenzbasierten Empfehlung 5.E8, Evidenzgrad 1a, Empfehlungsgrad A). “Dann kann man sich solche Operationen, die allein nur deshalb gemacht werden, um die Lebensqualität zu verbessern, auch sparen”, kommentierte Hampel. “Wir brauchen angesichts der Vielzahl fehlindiziert durchgeführter Operationen ein Register mit systematischer Erfassung von Effektivität, Lebensqualität und Komplikationen”, resümierte Hampel unter Bezug auf Punkt 5 der Arbeitskreis-Stellungnahme.

    Zankapfel Urogynäkologie

    Dass der Chefarzt der Urologischen Abteilung am Marienhospital Erwitte (Kreis Soest, Nordrhein-Westfalen) so hart mit den gynäkologischen Kollegen ins Gericht ging, hat aber sicher nicht nur sachliche Gründe. Die Urologen kämpfen derzeit mit den Gynäkologen um die Subspezialisierung Urogynäkologie und streiten sich oft mit ihnen über die richtigen Operationsverfahren – etwa über den Stellenwert der CESA/VASA-Operation bei Dranginkontinenz (wir berichteten). Da erscheint es folgerichtig, dass die Urologen der Fachwelt immer wieder signalsieren: Wir Urologen machen es besser. Prof. Daniela Schultz-Lampel, Vorsitzende des Arbeitskreises wie auch des DGU-Checkpoint-Forums, brachte bei der Abmoderation den Konflikt denn auch auf den Punkt: “Wir dürfen uns das Gebiet Urogynäkologie nicht von den Gynäkologen einfach wegnehmen lassen.” Da erscheint es schwierig, wenn die Urologen gleichzeitig – wie auch in diesem Forum betont – eine interdisziplinäre Zusammenarbeit hochhalten wollen.

    (ms)

    Der Beitrag Heftige Kritik an Leitlinien zu Inkontinenz und Descensus erschien zuerst auf Biermann Medizin.
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    05/2009 CIS, 02/2010 pT4 a, G 3, sechs Zyklen Chemotherapie, Gem/Cis, 08/2018 Nephrektomie rechts


    "wer kämpft, der kann verlieren; wer nicht kämpft, hat bereits verloren"

  • wolfgangm

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