28 Jahre Neoblase
Zunächst, was war vor der Neoblase? Ich lebte 20 Jahre mit einem Ileum conduit. Technisch betrachtet, funktionierte das eigentlich recht gut. Vom sozialen Standpunkt aus betrachtet, waren die „Harnsackerln“, die ich als junger Mensch auf meinen Bauch geklebt hatte, eine Katastrophe. Wobei ich Glück hatte, denn ich hatte sehr verständnisvolle Freundinnen und kam so, trotz Scham und Unsicherheit, in den Genuss von Sexualität und Zärtlichkeit. Jedoch, ob und wie die Entwicklung meiner Sexualität und Zärtlichkeit verlaufen wären, hätte ich einen gesunden Körper gehabt, ist eine andere Frage, die ich mir zwar stelle, aber nicht beantworten kann.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich dringend zu beratenden Gesprächen mit Lebens- u. Sozialberatern oder zu einer Psychotherapie raten. Es ist nicht selbstverständlich, nach der gelungenen OP und Reha gesund zu sein. Und es ist auch nicht einfach, als gehandicapter Mensch ein Leben unter gesunden Menschen zu führen, ob mit einem künstlichem Ausgang oder mit einer Neoblase.
Wieder zurück zur Neoblase: Als ich 25 Jahr alt wurde, bekam ich ein neues Leben. Wobei der Start war recht holprig war. Durch die Operationsklemmen, die meinen Bauch 11 1/2 Stunden offenhielten, wurde der Ischias Femoralis (ein großer Nerv der vom Hirn durch den Rückenmarkskanal in den Beckenboden und dann an beiden Beinen entlang bis zu den Fußsohlen verläuft) so verletzt, dass ich meine Beine nicht mehr gespürt habe. Erst innerhalb von zwei Jahren konnte sich der verletzte Nerv dann doch recht gut erholen. In diesen zwei Jahren spürte ich beim Schlafen immer wieder sehr schmerzhafte unangenehme Stromstöße in meinen Beinen. Die damalige Beziehung zerbrach.
Die Neoblase ist eigentlich ganz gut gelungen, nur der Schließmuskel der Blase wollte sich nach 20 untätigen Jahren nicht öffnen. Drei kleine Operationen, in denen der Muskel immer wieder ein kleines Stück geöffnet wurde, waren notwendig, bis ich das erste mal Wasser lassen konnte (nach jeder OP hatte ich einen Dauerkatheter für weitere drei Wochen).
Dann kam die Zeit des Lernens u der Infektionen. Miktions- u Trinkprotokoll, zwei Wecker nachts, Antibiotika, immer wieder sich verändernde Stämme … und doch konnte ich das erste mal in meinem Leben eine Schwimmhose tragen, ohne darunter etwas verstecken zu müssen. Oder Angst haben, dass der Kleber des Kolostomiebeutels nicht hält oder gewechselt hätte werden sollen usw. Jetzt muss ich aufpassen, was ich esse und trinke, Alkohol in sehr geringen Mengen, Sprossenkohl geht gar nicht, Speiseeis nur sehr wenig (Vanille u Schokolade mit Schlagsahne oder Eiskaffee gerührt mag ich sehr). Und doch ist es fantastisch, nur mit einer kleinen Windeleinlage auf fünftägige Skihochtour oder auf Reisen zu gehen. Oder in die Sauna zu gehen, von dem Gefühl auf einem WC zu sitzen und pissen zu können, gar nicht zu reden - I’m lovin it!
Die Infektionen bekam ich in den Griff durch ausgiebiges Trinken vormittags und Preiselbeertabletten bzw. Preiselbeersaft u wieder einmal einfach Glück.
Ah ja, und 2003 ist dann meine Neoblase geplatzt, ich war betrunken und hab nicht auf mich geachtet. Man könnte meinen, mit 33 Jahren sollte man wissen, was man kann und wie man auf sich achtet. Ganz ehrlich, mit dem künstlichen Ausgang konnte ich mich fallen lassen, ich hab recht viel Alkohol getrunken und bewusstseinserweiternde Substanzen ermöglichten mir eine kurze Flucht. Das Schlimmste, was mir neben Kopfschmerzen und Kotzen passierte war, dass ich in einem nassen Bett aufgewacht bin. Aber das funktioniert nicht mit Neoblase! - Im Schlimmsten Fall, kann sie in solchen Situationen platzen.
Bitte passt gut auf euch auf, die Neoblase funktioniert super, aber nur, wenn ihr sie genau nach Bedienungsanleitung entleert. Dass man keine Nacht durchschläft? Fragt mal eure Frau, die eure Kinder geboren hat, wieviele Jahre sie nicht durchgeschlafen hat? Man gewöhnt sich daran, nachts aufzustehen, gegen Gedankenchaos, das mich nicht mehr einschlafen lässt, hilft mir ein langweiliges Buch (Umberto Eco „Der Friedhof in Prag“), das ich seit 15 Jahren lese, wenn’s spannend wird, beginne ich wieder vorn, das ist sooo langweilig …
Ähmmm, u dann sind da auch noch die Hämorrhoiden, sie entwickeln sich recht schnell wegen den bauchmuskelanspannen zum blasenentleeren. Mir persönlich hilft ein wc mit pidetfunktion (immer gut mit kaltem Wasser reinigen).
Ja ich hab meine Probleme: Auf den Nieren sind 40% Pyramidenverkalkung und die besagten Hernien schicken das Essen wieder rückwärts, aber da werden sich auch etwas finden, wir leben ja in einem medizinisch hochentwickelten Land. Und die Entwicklung in der Medizin geht rasant voran, auch wenn mein Körper langsam zerbricht.
Doch auch gesunde Menschen kämpfen mit dem körperlichen Verfall. Lasst euch euren Mut nicht nehmen, denn es geht weiter, nicht wie vorher, doch es geht weiter, und wer weiß, was werden wir sehen, wenn wir am Gipfel sind? - andere Gipfel oder doch das Meer ;))
Ganz liebe Grüße Kraft u Mut 🖖🏻